Einsamkeit: „In Berlin gilt manchmal schon ein nettes Hallo im Hausflur als verwerflich“

Katharina Schulz ist die Einsamkeitsbeauftragte in Reinickendorf. Sie ist die Einzige in der Stadt und im ganzen Land, die offiziell gegen ein anwachsendes Gefühl vorgeht.
Ein Tag in der Woche, vormittags um 11 Uhr am Rathaus Reinickendorf. Wer Katharina Schulz, die Einsamkeitsbeauftragte des Bezirks, nur vom Foto auf der Website des Bezirksamtes kennt, würde nie mit einer so gut gelaunten und empathischen Frau rechnen. „Ist halt Amt“, sagt sie über das Foto – und man weiß sofort, was sie meint. Ihr rollendes „R“ stammt aus Polen, wo sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr aufwuchs. Vor fast genau einem Jahr berief die Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbürken-Wegner die 43-Jährige auf ihren Posten, der so in Berlin und Deutschland noch ein Novum ist. Selbst aus Südkorea kam das staatliche Fernsehen KBS und wollte wissen, wie man das macht, gegen Einsamkeit vorzugehen. Schulz erzählt, dass nicht jeder in Berlin ihr Amt begrüßt. Oft hieße es, die Stadt solle ihre Finanzen lieber in die Schulsanierung stecken, als ständig „neue Beauftragte“ zu erschaffen. „Und dann wurde die Einsamkeitsbeauftragte als Stelle geschaffen“, sagt Katharina Schulz – und lacht. Wir sitzen erst in der Rathauskantine, die hervorragende mediterrane Snacks anbietet, ziehen dann aber um in ihr Büro, als der Mittagsbetrieb zu laut wird.
Frau Schulz, was autorisiert Sie, gegen Einsamkeit anzukämpfen? Ist es Ihre berufliche Qualifikation, kennen Sie sich aus mit Einsamkeit?
Ich glaube, jeder Mensch, wenn er in sich hineinhorcht und den Mut fasst, darüber zu reflektieren, kennt Einsamkeit. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl und findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten wieder. Du kannst alles haben – und dich bitter allein fühlen. Es ist das Gefühl, nicht gebraucht, nicht gehört, nicht geliebt, nicht gesehen zu werden. Keiner Gemeinschaft mehr anzugehören, isoliert zu sein. All das fördert bestehende Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und mehr. Einsamkeit kann sogar zu einem Problem für die Demokratie werden: Wer sich einsam fühlt, neigt eher dazu, sich zu radikalisieren und sich Verschwörungstheorien hinzugeben. Ich bin weder Arzt noch Sozialarbeiter, aber ich mache Möglichkeiten sichtbar, der Einsamkeit zu entkommen. Ich fühle mich genau richtig auf diesem Posten.
Zu dem Sie wie kamen?
Ich bin eigentlich BWLerin, komme aus der freien Wirtschaft. Vor zehn Jahren habe ich im öffentlichen Dienst angefangen. Ich war im Rathaus Reinickendorf viel mit Veranstaltungsplanung beschäftigt, und dann kam vor fünf Jahren das große Feld des bürgerschaftlichen Engagements hinzu, das passt gut zueinander. Denn durch das Ehrenamt ist viel Hilfe für die Einsamen möglich. Genauso kann ein Ehrenamt andersrum ein Weg aus der Einsamkeit sein. Denken Sie an Besuchsdienste, Lesepaten, alles Mögliche. Es lag also nahe, diese beiden Stellen in einer Person zu koppeln. Ich selbst gehe zwar nicht zu den Betroffenen, aber ich schaffe übergeordnete Strukturen und Maßnahmen, plane Veranstaltungen und vernetze vor allem. Wir sind an allen dran: an Stadtteilzentren, Religionsgemeinschaften, an Kirchen, an Migrationsselbsthilfe-Organisation und und und. Wir hier in Reinickendorf sind schon vor Jahren durch unsere Bürgermeisterin, Frau Demirbürken-Wegner, sensibilisiert worden. Sie hat diese Stelle geschaffen.
Erklären Sie das bitte.
Als sie noch Staatssekretärin für Gesundheit im Abgeordnetenhaus war, hat sie bereits vor über zehn Jahren die ersten Petitionen und Anträge zur Förderung einer Einsamkeitsbeauftragten gestellt. Es gab sehr viel Gegenwehr. Sie wurde belächelt. Und als sie dann hier Bürgermeisterin wurde, hat sie die Stelle eingerichtet.
„Berlin hat Nähe verlernt“Sie können vielleicht Einsamkeit lindern mit Ihren Angeboten, aber erstmal müssen sich die Einsamen auch trauen zu kommen. Denn jede Teilnahme bedeutet, wenn ich da jetzt hingehe, oute ich mich, oder?
Das ist halt meine Aufgabe – zu ermutigen, Optionen aufzuzeigen. Ich verstehe natürlich, dass viele Menschen gar kein Vertrauen mehr haben in die Gesellschaft, weil sie schon so viel Negatives erfahren haben. Aber wir müssen ausstrahlen, dass es Lösungen gibt, auch gegen Verbitterung. Ob das kulturelle, soziale Angebote sind, professionelle Hilfe durch Ärzte oder das Gesundheitsamt, die Mobilitätshilfe oder Sportangebote. Es gibt da wirklich eine Menge, auch gemeinsames Spazierengehen, Nachbarschaftspflege, die Stadtteilzentren – eigentlich könnte jeder etwas Passendes finden. Unsere Seniorenfreizeiteinrichtungen beispielsweise haben an die 90 verschiedene Gruppen. Aber Sie haben natürlich Recht, wenn Sie sagen: In erster Linie muss der Mensch da selbst raus wollen. Wir können nur dazu anstupsen und Möglichkeiten bieten.
Wie erfahren Sie von einsamen Menschen in Ihrem Bezirk?
Bei der Jugend ist das natürlich schwierig, aber unsere Reinickendorfer Senioren über unseren Gratulationsdienst beispielsweise. Ehrenamtliche gehen und gratulieren zu Geburtstagen, sehen unter Umständen, was los ist und kontaktieren uns dann. Zum Teil haben wir auch noch diese nachbarschaftlichen Strukturen, wo Gemeinschaft gut funktioniert, zum Beispiel in der „Konditorei Laufer“, wo vor über einem Jahr der erste Stammtisch gegen Einsamkeit entstand. Bei Laufers Personal melden sich diejenigen ab, die mal länger nicht da sind, ganz nach dem Motto: Wenn ich jetzt eine Woche nicht meine Brötchen hole, müsst ihr euch keine Sorgen machen!

Wir haben gerade draußen ein Foto mit Ihnen auf einer sogenannten Quasselbank gemacht, die Leute zum Miteinanderreden einladen soll. Das funktioniert?
Die Idee dieser Bänke stammt aus Großbritannien, aber wir müssen ja nicht das Rad neu erfinden. Bei den Reinickendorfern kommen die Bänke jedenfalls super an. Die freuen sich und schlagen selber Orte für die Bänke vor. Ich weiß von einer älteren Dame, die wohnt im Märkischen Viertel, ist Witwe und hochbetagt. Bei einem „Quasseltreff“ kam sie zu mir, bat um Zettel und Stift, weil sie mit einer anderen Frau ins Gespräch kam, die zufällig in ihrer Nähe wohnt. Sie haben Nummern ausgetauscht und sind den Weg zusammen nach Hause gefahren. Die nächste Quasselbank wird eine auf dem Friedhof sein, wo donnerstags von 13–16 Uhr eine katholische Seelsorgerin vor Ort ist und Betroffene in ihrer Trauer nicht allein lässt. Das wird sich auch schnell herumsprechen, da bin ich sicher.
Sie machen das jetzt seit fast einem Jahr. Ist Ihr Erfolg messbar?
In Reinickendorf leben knapp 22.000 Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Und wir sehen schon, dass unsere Angebote zahlenmäßig fruchten. Ich treffe immer wieder auf Menschen, die sich nur durch unsere Aktionen kennengelernt haben, Freunde wurden, sich regelmäßig auf einen Plausch treffen. Wobei Frauen dafür offener sind als Männer. Auch unser Einsamkeitsessen am 24. Dezember, erfährt immer mehr Zuspruch. Da trifft man dann auf Menschen, die fünf Jahre in Folge an Weihnachten allein waren. Aber wer merkt das schon in den Mietshäusern und hat dann auch noch Lust, sich zu kümmern? Viele Berliner kennen ja nicht mal ihre Nachbarn, mit denen sie seit Jahren Tür an Tür wohnen. Berlin hat viele Vorteile, aber Nähe hat es eindeutig verlernt. Manchmal gilt hier schon ein nettes Hallo im Hausflur als verwerflich. Da denken die Leute schon, was spricht der mich an? Dabei war das mal eine Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander. Ebenso wie das Aufstehen für ältere Menschen im Bus oder die Frage im Supermarkt „Darf ich mal vorbei“. Da wird sich lieber stumm überall durchgedrängelt.
Da sagen Sie was.
Nach Ihrem Artikel, das weiß ich schon, mehren sich hier wieder die Anrufe. Aber viele werden auch sagen, dass sie für einen Freund fragen.
Das ist traurig. Vielleicht sollte über Einsamkeit genauso offen gesprochen werden wie gegenwärtig über Depressionen und Angstzustände, auch wenn vornehmlich Influencer oder Promis das tun und manch einer es sogar zum Geschäftsmodell erhoben hat.
Unbedingt. Einsamkeit ist ein stilles Leiden. Man zieht sich zurück. Und deswegen muss es laut gesagt werden. Wir Menschen müssen wieder achtsamer werden, gerade hier in der Großstadt. Aber nicht nur mit uns selbst, sondern besonders mit unseren Mitmenschen.
Man kann Sie direkt anrufen?
Nun, ich bin jetzt keine Hotline oder so, aber in der Tat erreichen mich Menschen aus ganz Deutschland, es ist nicht auf Berlin beschränkt. Ich bin zwar nur zuständig für Reinickendorf, aber ich versuche wirklich, mit allen zu reden, zu helfen. Ich würde niemals auflegen. Aber wir fangen jetzt auch an, ein Team aufzubauen, weil so viel zu tun und die Resonanz so positiv ist. Wir kriegen auch Anfragen aus anderen Berliner Bezirken, aus anderen Gemeinden. Die fragen: Wie macht ihr das?

Sollte nicht ganz Berlin so jemanden haben wie Sie? Bräuchte nicht ganz Deutschland ein Einsamkeitsministerium, wie es das in Großbritannien schon gibt?
Dafür muss politisch erst einmal die Notwendigkeit erkannt werden. Unsere Bürgermeisterin kämpft seit Jahren für das Thema – unermüdlich, auch auf Landesebene. Wo sie ist, ist Einsamkeit ein zentrales Thema. Und jetzt, da es uns gibt, fangen auch andere Bezirke an, das Thema ernst zu nehmen. Je öffentlichkeits-wirksamer darüber berichtet wird, desto mehr Menschen trauen sich, in Einrichtungen zu gehen und zu sagen: Ich bin einsam, helft mir! Deswegen haben wir auch einen Sticker, ein Logo für unser Amt gestaltet, und jede Einrichtung, auf der er klebt, weiß, wie mit Betroffenen umzugehen ist. Das Schlimmste ist, wenn jemand den Mut fasst, irgendwo hinzugehen und dann abgewiesen wird.
Nun ist Reinickendorf aber auch der Berliner Bezirk mit den meisten alten Menschen. Einsamkeit hat aber inzwischen längst die Jugend erreicht, seit der Pandemie besonders. Und Statistiken besagen, dass sich mehr als die Hälfte der 16- bis 30-Jährigen in diesem Land einsam fühlen. Hinzu kommt: Berlin hat fast 60 Prozent Single-Haushalte. Wie gehen Sie damit um? Ich hatte letztens eine Studentin am Telefon, die zu dem Thema ihre Masterarbeit schreibt, im Kontext mit Architektur. Sie meinte, sie habe sich jetzt lange genug mit Einsamkeit befasst, auch mit den Kommilitonen darüber gesprochen. Am Ende war sie mutig genug, zu sagen: Ich fühle mich auch ab und an einsam, wie geht es euch damit? Die Resonanz soll toll gewesen sein. Das Thema muss einfach raus aus der Tabuzone. Es muss besprechbar werden, dann verliert es auch sein Stigma, das ja leider immer noch so geht: Wer einsam ist, ist selber schuld. Das ist Quatsch.
„Wir schauen inzwischen lieber weg als hin“Mal etwas polemisch gefragt: Ist es nicht auch so, dass viele, die nach Berlin kommen, sich für einzigartig halten, irgendetwas Kreatives machen und groß rauskommen wollen und dann in ihrem Drang, besonders individualistisch zu sein, einsam werden? Sicher, der Zeitgeist beschwört den Individualismus ja geradezu. Wir ziehen immer mehr kleine Egos heran. Wir streben nach grenzenloser Freiheit, nach grenzenloser Perfektion, aber glücklich sind wir trotzdem nicht. Das Alter sperren wir weg, damit wir es nicht sehen müssen. Das wird auch die Krankenkassen immer mehr belasten. Die Forschung sagt, Einsamkeit sei schädlicher als 15 Zigaretten am Tag. Sie fördert psychische Erkrankungen, und in den schlimmsten Fällen kann chronische Einsamkeit zu Suizid führen, wie die entsprechende Rubrik in der Kriminalstatistik heißt.
Wenn im Spätkapitalismus die Freiheit des Einzelnen immer wichtiger wird, sind Quasselbänke dann nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein?
Deswegen müssen wir in den Schulen schon erklären, dass das Leben nicht nur die sozialen Medien sind. Auch mit zweihundertausend Follwern kann man verdammt einsam sein. Denn ist dein Handy mal aus, sitzt du allein in deinem Zimmer – und niemand ist da. Natürlich sind soziale Medien auch eine Chance, Unterstützung und Mitgefühl zu finden, aber eine echte soziale Begegnung werden sie nie ersetzen. Jemanden zu treffen, ihn in den Arm zu nehmen, sich in die Augen zu schauen – das brauchen wir Menschen als soziale Wesen. Aber weil wir die Jugend vornehmlich im Digitalen finden, haben wir auf YouTube ein schönes Video eingestellt. Und: Am 16. Dezember findet der Einsamkeitsgipfel abermals in Reinickendorf statt, dieses Jahr steht die Jugend im Fokus, es wird einen Livestream auf Instagram geben.
Berliner-zeitung